Das Gute im Schlechten suchen

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Eine meiner beliebtesten Intervention im Coaching war es bisher „das Gute im Schlechten“ zu suchen. Auch wenn es noch so mies läuft – meist findet man tatsächlich etwas, was gar nicht so trist und grau ist und was bei genauer Betrachtung, tatsächlich auch noch schlechter laufen könnte, als es das eh schon tut. Also freuen wir uns daran, dass es eben nicht noch schlimmer gekommen ist. Ist der Chef so richtig mies, kann man sich an den freundlichen Kollegen und den zuvorkommenden Kunden erfreuen. Meist empfindet der Coachee die Situation dann tatsächlich nicht mehr als eine unüberwindbare Wand, die ihn frontal ausbremst, sondern er hört das Leben liebevoll flüstern: „Ich habe etwas besseres mit Dir vor!“ und er läuft einfach links oder rechts an der Wand vorbei.

********FILMRISS**********
Jaja, sehr schön, wenn’s so läuft, aber leider ist unser Leben keine Nicolas-Sparcs-Verfilmung – da helfen auch keine Coachings und keine schönen Metapher. Wer kann in einer extrem negativ verlaufenden Lebenssituation, in der man unfähig ist neue Handlungsspielräume überhaupt auch nur zu erkennen, mutig einen neuen Weg einschlagen? Sich praktisch an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen… ich kenne niemanden.
Mit Hilfe von außen, seien es Trauercafes, gute Freunde, Familie oder Menschen mit denen man ähnliche Erfahrungen teilt, wird es da gleich um einiges leichter. Aber jeder braucht seine Zeit, seinen eigenen Tritt, seinen eigenen Fortschritt oder manchmal einfach nur den eigenen Stillstand, den man geniesst, weil auch Stillstand und Nichtveränderung manchmal gut tun.
Die Menschen, die wiederum relativ schnell wieder ins Handeln kommen, deren Mindset auf Öffnung und Veränderung steht, diese Menschen sind recht zackig unterwegs zu ihrem nächsten Etappenziel, hin zu einer neuen Wirklichkeit. Oft hört man von ihnen Sätze, wie: „Meeeeeeein Gott, wie kann man nur… so lahmarschig sein, sich so hängen lassen, so viel jammern!“ oder „Warum kündigt er nicht?“ „Warum verändert sie sich nicht!“ „Warum zieht sie nicht aus?“
Die Theorie, dass der Leidensdruck bei Menschen, die nichts an ihrer schlimmen Situation verändern, noch nicht groß genug ist, halte ich für überheblich und nicht immer angemessen. Manchen Menschen ist es einfach nicht möglich ohne Hilfe von außen das Tal der Tränen zu verlassen. Eine missbilligende Reaktion auf Phrasen wie „Die-Welt-ist-schön“, „Komm-wir-packen-das“ oder „Lebe-Dein-Leben“ ist verständlich, oder?
Manchmal ist das Leben ganz einfach großer Mist und da bringt es auch nichts, hinaus zu gehen und den Sonnenschein zu fangen. Ein Coach sollte tatsächlich beurteilen können, ob sich ein Coachee nur in einer Situation befindet in der er veränderungswillig ist und Unterstützung benötigt, oder ob es sich um eine depressive Verstimmung handelt. Der Grat ist schmal und verletzlich.
Trotzdem werde ich weiterhin gerne „das Gute im Schlechten“ suchen gehen, aber wenn sich auf Anhieb nichts findet, werde ich das auch nicht erzwingen – versprochen!

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